Mein persönlicher Blick auf den Ausstieg – von Julia Verlinden
Der Text ist zuerst bei klimareporter erschienen, dem Online-Magazin zu Klima und Energie.
Als der Super-Gau in Tschernobyl 1986 Radioaktivität über halb Europa verteilte, war ich gerade sieben Jahre alt. Die Sowjetunion wollte den Unfall nicht zugeben. In Skandinavien schlugen die Messgeräte an. Erst Tage nach dem Unfall berichteten die Medien. Die Bundesregierung war hilflos.
Meine Eltern: hochgradig besorgt. Meine Familie kaufte literweise H-Milch und stapelte sie im Keller, weil die frische Milch durch radioaktiven Fallout belastet sein könnte – wie heute noch Pilze und Wildtiere besonders im Süden Bayerns.
Vor der Katastrophe waren wir immer zu Fuß zum Bauern wenige hundert Meter weiter gegangen, um mit großen Milchkannen frische Milch abzuholen. Damit war es nun vorbei. Jetzt wirkte der Eingangsbereich des Hauses eher wie eine Schleuse: Wir mussten die Kleidung ablegen, wenn wir von draußen kamen, vor allem die Schuhe.
Die Verunsicherung war groß: Durften wir die Johannisbeeren und Äpfel aus dem Garten essen? Durften wir auf die Spielplätze? Meine Eltern wollten uns Kinder keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Die Bundesregierung versuchte zu beruhigen, doch die Argumente blieben dünn.
Die ganze Familie fuhr zur Anti-Atom-Demo nach Bonn. Viele fragten sich: Was wäre, wenn so ein GAU mitten im dicht besiedelten Deutschland passieren würde? Gudrun Pausewang schrieb das Buch „Die Wolke“, das viele Schulklassen seitdem gelesen haben.
Mitte der 90er Jahre, der Kalte Krieg war beendet, führte Frankreich Atombombentests im Pazifik durch, ohne Rücksicht auf Bevölkerung, Flora und Fauna dort. Wir waren zornig: „F*ck Chirac!“ Ich schrieb Artikel in der Schülerzeitung, forderte globale und Generationengerechtigkeit.
Der erste Ausstieg
1997 war ich das erste Mal in Gorleben. Als Team organisierten wir – unter anderem mit BUND- und Naturschutzjugend – die Fahrraddemo „gRadwanderung“, die von Nordrhein-Westfalen bis zum geplanten Endlager im Wendland ging und mit der wir für die Energiewende und gegen Atomkraft demonstrierten. Unterwegs verteilten wir Flyer zu Solarenergie und diskutierten in Workshops.
Es ging auch um Strukturen und Lobbyeinfluss der Energiekonzerne, die ein großes Interesse daran hatten, ihre Oligopole zu verteidigen. Viele Milliarden hatten sie bis dahin schon an staatlichen Subventionen erhalten. Sie wollten neue Akteure auf dem Markt, die saubere Ökoenergie anbieten, um jeden Preis verhindern.
1998 erlangten SPD und Grüne bei der Bundestagswahl eine parlamentarische Mehrheit. Sie verabredeten, die Atomkraft zu beenden und die erneuerbaren Energien auszubauen. 2001 schloss die Regierung eine entsprechende Vereinbarung mit den Atomkraftbetreibern.
Die Bürgerenergiewende nahm Fahrt auf, es ging um ein riesiges Projekt der Dezentralisierung und Demokratisierung. Menschen konnten allein oder in Genossenschaften ihren eigenen Strom produzieren und wirbelten damit den Energiemarkt ganz schön durcheinander.
Zu der Zeit gab es nicht nur den Politikwechsel im Bund, auch bei mir stand eine Veränderung an: Mich zog es zum Studium nach Lüneburg, nicht weit entfernt vom Wendland.
Regelmäßig war hier die Atompolitik Thema – an der Uni, in den Initiativen, in der Nachbarschaft. Auch die Castor-Behälter mit dem Atommüll rollten auf ihrem Weg nach Gorleben stets durch die Stadt.
Andere erlebten es in Wackersdorf oder Brokdorf, meine Generation in Ahaus und Gorleben: Die Atompolitik konnte nur mit einem großen Polizeiapparat gegen die Menschen vor Ort durchgesetzt werden.
Der zweite Ausstieg
2010 lag der Anteil der Erneuerbaren beim Stromsektor bei 17 Prozent und war damit der Atomkraft mit ihren 23 Prozent schon dicht auf den Fersen.
Doch anstatt die Win-win-Technologie der Erneuerbaren voranzubringen, machte die schwarz-gelbe Bundesregierung den Atomausstieg rückgängig, verlängerte die Laufzeiten der AKWs, teilweise bis weit in die 2030er Jahre.
Dann kam der 11. März 2011 und brachte die erneute Wende. Ich saß am Schreibtisch, schrieb an meiner Doktorarbeit und bekam zufällig im Internet mit, was in Fukushima los war.
Die Bilder ließen mich nicht los und sie bestätigten, dass diese Risikotechnologie nicht beherrschbar ist. Auch Angela Merkel änderte ihre Haltung, als Physikerin und als Kanzlerin. Sie habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass „selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können“.
Die sieben ältesten Meiler Deutschlands wurden sofort vom Netz genommen, außerdem das AKW Krümmel bei Geesthacht. Im Juni 2011 beschloss der Bundestag mit den Stimmen von Union, FDP, SPD und Grünen das Abschalten der restlichen AKW bis Ende 2022.
Ich war erleichtert, auch wenn uns die Atomkraft noch lange beschäftigen würde, besonders die Frage nach dem Atommüll.
Die ungelöste Atommüll-Frage
Gorleben war 1977 aus politischen Gründen vom CDU-Ministerpräsidenten Albrecht als Atommüll-Endlager benannt worden. Für die nächsten eine Million Jahre – ein unvorstellbar langer Zeitraum.
An der Eignung des Salzstocks gab es wissenschaftliche Zweifel, von Anfang an. Viele andere Bundesländer hatten sich erleichtert damit abgefunden, dass der gefährliche Müll nach Niedersachsen kommen sollte.
Nach der Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg war ein Neustart bei der Endlagersuche möglich geworden. So wurde 2014 die Atommüll-Kommission eingesetzt, in der ich neben unserer atompolitischen Sprecherin Sylvia Kotting-Uhl als Stellvertreterin für die grüne Bundestagsfraktion benannt wurde.
Die Arbeit war herausfordernd: Es gab berechtigte Erwartungen der Zivilgesellschaft, dass nun alles anders würde. Schließlich war der Atomausstieg ein zweites Mal beschlossen worden und die alten Atom-Seilschaften sollten keine Rolle mehr spielen.
Doch bei der Frage, wer für den Müll zahlt oder welche Kriterien für ein möglichst sicheres Endlager entscheidend sein sollten, war schnell sichtbar, wer aus welcher Tradition heraus argumentierte.
Eine große Frage war dabei immer die nach dem Vertrauen in den Prozess. Zu oft waren Menschen in der Vergangenheit enttäuscht worden von politischen Entscheidungen, die weder das Vorsorge- noch das Verursacherprinzip zur Grundlage gemacht hatten.
Vertrauen und Verantwortung
Die Frage nach Vertrauen in gut begründete Entscheidungen stellt sich mir auch heute wieder. Der Atomausstieg ist gesetzlich geregelt, die Weichen für die Energiewende sind gestellt.
Heute erzeugen wir etwa die Hälfte des Stroms in Deutschland erneuerbar. Schon 2030 sollen es 80 Prozent sein. Darauf hat sich die Ampel-Koalition verständigt und das Erneuerbare-Energien-Gesetz entsprechend erneuert.
Intelligenter und sparsamer Umgang mit Energie aus Wind und Sonne ist der richtige Weg. Diese Energie ist sicher, günstig, schützt das Klima, macht uns unabhängig von Brennstoff-Importen und ermöglicht die Beteiligung der Vielen.
Von den erneuerbaren Energien geht kein Risiko mit irreversiblen Folgen aus. Von alten Atomkraftwerken, die keine gültige Sicherheitsüberprüfung mehr haben, hingegen umso mehr.
Es geht bei der Atom-Frage für mich neben Vertrauen und Verlässlichkeit vor allem um meine Verantwortung als Abgeordnete, Schaden von den Menschen abzuwenden.
Die Auseinandersetzung mit der gewaltigen Zerstörungskraft der Atomkraft – ob als Bombe oder durch Unfälle in der „zivilen“ Nutzung – sowie die Erfahrungen aus der Endlagerkommission haben meine Überzeugung gestärkt, dass wir den Planeten, unser einziges Zuhause, diesem großen und unnötigen Risiko nicht länger aussetzen dürfen.
Denn es gibt deutlich bessere und sicherere Alternativen zur Atomkraft, in jeder Hinsicht. In Verantwortung nicht nur für uns selbst, sondern auch für die nachfolgenden Generationen ist daher der einzig richtige Weg, den Atomausstieg zu vollenden.