Nachhaltigkeit braucht Suffizienz braucht Politik

12. November 2014
Julia Verlinden auf dem Podium im Freiraum in Lüneburg

Auf Einladung von Julia Verlinden, Sprecherin für Energiepolitik von Bündnis 90/Grünen im Bundestag, sind am 22.10.2014 viele Interessierte in den Lüneburger „Freiraum“ gekommen. Unter dem Titel „Nachhaltigkeit braucht Suffizienz braucht Politik“ diskutierte Julia Verlinden mit Prof. Harald Heinrichs (Leuphana), Daniel Constein (Koordinator Degrowth 2014; Mitglied B’90/Die Grünen) und Silvia Hable (Vorstandsmitglied der Transition-Town) über die Notwendigkeit von Suffizienz als Leitidee, die Umsetzbarkeit von Suffizienzpolitik und praktische Beispiele suffizienter Lebensstile.

Suffizienz erforschen und praktisch gestalten

Prof. Harald Heinrichs von der Universität Lüneburg verwies aus der wissenschaftlichen Perspektive darauf, dass rein technologische Lösungen allein die Umwelt- aber auch andere Probleme, die wir im sozialen oder Gerechtigkeitsbereich haben, nicht werden lösen können. „Suffizienz“ definierte er als „Genügsamkeit, Maßhalten, weniger materialverbrauchenden Konsum“ und Suffizienzpolitik als Politik für ökologisch tragfähige Konsummuster. Allerdings, trotz des Wissens um absolute Grenzen unserer Ressourcen, zeigen Umweltbewusstseinsstudien, dass es in der Gesellschaft keine Mehrheit für Konsumverzicht gebe.

Freiwillige Suffizienz gebe es nur in speziellen Milieus. Verschiedene Praktiken wie Sharing (Teilen von Autos, Wohnungen, Elektrogeräten usw.) befänden sich zwar im Aufschwung, seien aber längst nicht flächendeckend und müssten auch noch weiter gedacht werden. Denn für verschiedene Suffizienzpraktiken seien zahlreiche Menschen ansprechbar. Um hier die Kommunikation zu verbessern, müsse in einem ersten Schritt auch ein neuer Name für Suffizienzpolitik gefunden werden, um diesen Ansatz verständlicher zu machen. Weiterhin müsse eine Politik der Suffizienz Gelegenheitsstrukturen neu schaffen, die entsprechendes Verhalten befördern. Letztlich gehe es um besseres Leben ohne eine Steigerung des materiellen Wohlstands.

Die Suffizienzpolitik sei dabei kein neuer, sondern ein anderer Blick auf die Politik, so Daniel Constein. Er verwies auf einige interne politische Probleme der Suffizienzdebatte: So habe die Enquete-Kommission des Bundestages von 2011 bis 2013 zwar eine gewisse Grundlagen-Arbeit ermöglicht, bisher habe diese aber nur wenig praktische Relevanz für Politik. Denn es bestehe eine große Scheu vor Lebensstildebatten.

Für PolitikerInnen sei der Begriff Suffizienzpolitik sehr neu. Hier sollte auch ein neues Grundverständnis von Suffizienz geschaffen werden. Der Leitgedanke der Effizienz sei elegant, da ein Verzicht immer günstiger sei, als die Ergreifung von Effizienzmaßnahmen. Auch sei festzuhalten, dass bereits politische Maßnahmen bestehen, die Suffizienz fördern oder auch hemmen, an denen man ansetzen könne und dass die Suffizienz durch ihre Querschnitthaftigkeit einen umfassenden Instrumentenmix benötige. Es müsse „das Recht geben, nicht auf Kosten anderer leben zu müssen“. 

Herausforderungen vor Ort

Silvia Hable stellte anschließend eine ganz praktische Perspektive vor, nämlich die Transition Town Witzenhausen (TTW). Sie verortet diese als eine Art Bindeglied zwischen Individuum und Staat. Die Transition Town repräsentiere ein „conviviales Konzept“ und gehe davon aus, dass Gemeinwohl nur in einer gelebten Gemeinschaft möglich sei, wenn Einzelne auch tatsächlich am Wohl der Gemeinschaft interessiert seien.

Die Initiative hat etliche Projekte angestoßen und durchgeführt, wie GROWL-Living Degrowth, einen Mehrgenerationengarten, Pflückoasen und solidarische Landwirtschaften. Partizipation steht bei allen Projekten im Mittelpunkt. Auch benötige ein erfolgreiches Projekt immer eine sach- wie auch Beziehungsebene, was von vielen NGOs häufig vernachlässigt würde.

Als politisches Problem benannte Hable, dass selbst bestehende Gesetze nicht konsequent eingehalten würden und berichtete von einem illegalen Chemikalien-Einsatz an ihren Pflückoasen. Weiteres Problem seien der Zeitfaktor, weil sich die Verwaltung nicht in alle Sachlagen intensiv einlesen könne und dass die Transition Town häufig nicht ernst genommen werde. Eine Kooperation scheine hier kaum möglich, auch aufgrund von Macht-Asymmetrien zwischen Verwaltung und der TTW.

Aus den Positionen von Constein und Hable schloss Prof. Heinrichs, dass es bei der Suffizienzpolitik sowohl einen liberalen Ansatz mit einer individuellen Wertebasis und einen kommunitaristischen Ansatz mit einer gemeinsamen Wertebasis gebe. Diese stünden sich aber nicht unvereinbar gegenüber, es sei nur die Frage der Politik, wie sie zu vereinbaren seien. Eine Frage von Heinrichs war hier, ob kommunitaristische Gruppen wie die TTW, sich nicht stärker im demokratischen politischen System einbringen sollten. Daniel Constein brach denn auch eine Lanze für die Berufspolitik. PolitikerInnen seien auch immer „Nachvollzieher“ des kulturellen Wandels und bräuchten gesellschaftliche Rückendeckung für ihr Handeln.

Wie kann Suffizienzpolitik umgesetzt werden?

Was soll aber nun getan werden? Einig waren sich alle, dass im Bereich der regionalen Politik sehr viel geleistet werden könnte. Es muss mehr Raum geschaffen werden für gemeinwohlorientierte Initiativen und Gruppen und weniger für Werbung. Dabei kann auch die Wirtschaft ermöglichende Strukturen schaffen, wie Sharing-Modelle. Politik muss stärker querschnitthaft denken und kann im Bereich der Stadtplanung vieles erreichen. Dabei sei die Strategie der „Low-hanging-fruits“ eine einfache aber voran bringende, so Constein. Sie stellt die Frage, was Politik schon heute auf dem einfachsten Wege tun kann, um Suffizienz zu fördern. Zum Beispiel wurden von den ReferentInnen folgende Ideen geäußert: geplante Obsoleszenz (geplanter Verschleiß von Elektrogeräten) unterbinden, Care-Work aufwerten, ökologisches Bauen erleichtern, Kleingewerbe fördern, Vernetzung zwischen Städten und Gruppen erleichtern z.B. durch Einrichtung einer öffentlichen Stelle hierfür und Suffizienz hemmende Gesetze ändern.

Auch kommt man bei dieser Debatte nicht um die Frage nach einem neuen Wachstumsbegriff herum. Dabei sei eine differenzierte Sicht auf Wachstum nötig. Manches soll wachsen und manches soll schrumpfen. Eine wichtige Aufgabe in diesem Zusammenhang sei auch die Frage nach dem Sozialversicherungssystem. Constein schlägt hier die Einsetzung einer Enquete-Kommission vor, die Vorschläge für ein soziales Sicherungssystem erarbeitet, welches unabhängig von Wirtschaftswachstum funktioniert.

Julia Verlinden nahm aus dem Abend etliche Anregungen für die Politik mit und zog schließlich ihr Fazit:

“Die Politik fördert oder hemmt Suffizienz bereits, jeden Tag. Im Augenblick gibt es kaum Anreize, weniger Ressourcen zu verbrauchen. Was heute unter dem Begriff Suffizienzpolitik zusammengefasst wird, sind z.T. Instrumente aus der ganz klassischen Umweltpolitik: Verkehrsvermeidung, nachhaltige Stadtplanung, Abschaffung von umweltschädlichen Subventionen. D.h. wir haben schon Erfahrung damit, auch dass wir gerade hier sehr dicke Bretter bohren müssen.

Es ist deutlich geworden, dass jeder in seiner Rolle einen Beitrag zur Suffizienz leisten kann. Die Zivilgesellschaft kann selbst Vorbild sein, in Gemeinschaft ausprobieren und zeigen, was alles schon geht und von der Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen einfordern, damit die Suffizienzpolitik weiterentwickelt werden kann. Die Politik kann über Partizipation die Ideen aus der Zivilgesellschaft integrieren in den Prozess des Agenda Settings und politische Entscheidungen vorbereiten. Vor allem die Kommunen sind gefordert, Menschen, die nachhaltigen Lebensstilen nachgehen, durch eine zukunftsfähige Stadtplanung zu fördern und zu unterstützen.“